Konsens und Dissens in Partizipation
Die Protokolle der Beratung in den kommunalen Gremien San Gimignanos (1232–1240)
Leitung: Prof. Dr. Florian Hartmann
Von der Forschung nahezu unbeachtet, existiert ein einzigartiger Quellenbestand aus der toskanischen Stadt San Gimignano, der aus der ersten Hälfte des Duecento stammt und der in einmaliger Weise Einblicke in die Argumentation der Bürger, in Parteiungen und persönliches Abstimmungsverhalten, in Verbalisierungen von Meinungen und Strategien politischer Konsensbildung und in Formen ihrer Dokumentation in städtischen Protokollen erlaubt.
Ziel des Projektes ist es, anhand dieses Bestandes die Forschungen zur Verbalisierung und Protokollierung politischer Partizipation vor dem Hintergrund der zeitgenössischen theoretischen Vorgaben zu verbinden mit Forschungen zum politischen Umgang mit Konsens und Dissens in den streitbaren Zeiten des aufstrebenden popolo. Gerade angesichts des Aufstiegs des popolo ist es ein Ziel zu verstehen, wie sich die politischen Veränderungen und Spannungen in der Sprache widerspiegeln. Wenn die theoretische Podestà- Literatur Musterreden konkret für eine Redesituation präsentiert, in der ein neu eintreffender Podestà vor eine gespaltene Gesellschaft tritt, wird deutlich, wie wichtig es den Zeitgenossen war, dem Dissens auch sprachlich angemessen zu begegnen. Der Vergleich zwischen den theoretischen Ausführungen der Podestà-Literatur und den hier im Zentrum stehenden Protokollen aus San Gimignano erlaubt es, eine lange beklagte Forschungslücke zum Verhältnis von Theorie und Praxis öffentlicher Rhetorik zu schließen.
Damit eng verbunden ist die Zielsetzung eines zweiten Projektteils. Da die Protokolle zu jeder Frage namentlich personalisiert das Abstimmungsverhalten notieren, wird der Aufstieg des popolo nachvollziehbar anhand der Analyse des gruppenspezifischen Abstimmungsverhaltens der Ratsmitglieder. Über mehrere Jahrzehnte hinweg lässt sich in den Protokollen nachverfolgen, wie einzelne Mitglieder in den Gremien abgestimmt haben, wer sich als Wortführer etabliert, wer die meisten Wortbeiträge liefert und inwieweit sich einzelne Mitglieder immer denselben Personen anschlossen, also stabile Parteizugehörigkeiten sichtbar werden, und welche Personen in ihrem Verhalten eher volatil sind.
Bemerkenswert ist dabei nach ersten Befunden, wie offen die Protokolle Dissens festhalten und damit sichtbar machen. Das scheint der vorherrschenden Vorstellung zu widersprechen, in der öffentlichen Kommunikation der Kommunen sei eine Fassade des Konsenses aufrechterhalten worden. Ziel des zweiten Projektteils ist es daher, den Wert von Konsens und die Anerkennung von Dissens im öffentlichen Diskurs der Kommunen neu zu vermessen und zu fragen, in welcher Form Dissens, der in den streitbaren Stadtkommunen ohnehin nicht zu negieren war, akzeptiert und durch geregelte Verfahren reguliert wurde.
Auf wissenschaftspolitischer Ebene soll das Projekt der Intensivierung der Forschungskooperationen zwischen Italien und Deutschland, insbesondere auf dem Feld der lebhaften Kommunenforschung, dienen, wofür das Deutsche Historische Institut und der Kollege Prof. Enrico Faini (Florenz) die Kooperation zugesagt haben.
Das Projekt, das zunächst als Pilotprojekt nur den ersten Jahren der Protokolle 1232 bis 1240 in den Blick nimmt, wird ab 2023 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.